Der Begriff 'Systemsprenger' wird in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und auch in den Medien gemeinhin für Kinder und Jugendliche verwendet, denen mit den vorhandenen Hilfsangeboten von Ämtern, Jugendhilfen, Psychiatrien und Schulen scheinbar nicht mehr geholfen werden kann. In einer dreiteiligen Artikelreihe setzen wir uns kritisch mit diesem Begriff auseinander.
#3 Systemsprenger: Sehen lernen
Vieler dieser Kids können nicht sehen, wo sie stehen. Sie müssen erstmal sehen lernen, obwohl sie bestens im physiologischen Sinne sehen können. Es ist in der Tat so wie bei einem blinden Menschen. Wenn blind geborene Menschen aufgrund beispielsweise neuer Operationsmethoden auf einmal sehen können, müssen sie erst mühsam das Sehen lernen. Das geht zunächst von verschwommenen Gesichtseindrücken zu zweidimensionalem Sehen, dann zu dreidimensionalen Seheindrücken. Das dauert Monate, die Reihenfolge der „Seherfolge“ entwickelt sich analog zum ursprünglichen Sehen der heranwachsenden Kinder. Am Anfang, in den ersten 4 bis 5 Monaten, stehen eher undifferenzierte Seheindrücke, dann zweidimensionales Sehen und erst dann allmählich das Sehen in der dritten Dimension. Bezogen auf die Sehbehinderten nach einer Operation heißt das: Komplizierte Sehszenen wie auf einem Fahrrad, werden teilweise, auch je nach Alter der Operierten, nie mehr gelernt. Für jede dieser Stufen der Reihenfolge gibt es optimale Zeitfenster, deshalb ist das Sehenlernen nach der Operation so mühsam.
Sozial sehen
Das Bild von operierten sehbehinderten Menschen lässt sich – zumindest in Teilen – auf unsere Klientel übertragen.
Unsere Kids haben für viele soziale Prozesse nie gelernt, „sozial“ zu sehen. Sie begreifen oft nicht, was sie da sehen oder besser, was sich da abspielt. Die komplizierten und komplexen „Seheindrücke“ können nicht ausreichend interpretiert werden, weil diese Jugendlichen nie eine Chance hatten, in den optimalen Zeitfenstern die sozialen Abläufe zu begreifen. Da gibt es Kinder mit einem Autismus Syndrom, die die biologischen Voraussetzungen nicht haben, und es gibt die sozial benachteiligten, denen bestimmte soziale Abläufe vollkommen fremd sind. Therapie heißt dann: Sehen und Begreifen lernen.
Systemsprenger?
Den ersten beiden Teile der Artikelreihe zum Thema 'Systemsprenger finden Sie hier:
Warum reden wir von Systemsprengern? #01
Der Begriff 'Systemsprenger' wird in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und auch in den Medien gemeinhin für Kinder und Jugendliche verwendet, denen mit den vorhandenen Hilfsangeboten von Ämtern, Jugendhilfen, Psychiatrien und Schulen scheinbar nicht mehr geholfen werden kann. In einer dreiteiligen Artikelreihe setzen wir uns kritisch mit diesem Begriff auseinander.
Warum reden wir von Systemsprengern #02
Im 2. Teil unserer 'Systemsprenger'-Artikelreihe zeigen wir anhand von Fallbeispielen, dass es nicht den Systemsprenger gibt - nur die Menschen dahinter