Der Begriff 'Systemsprenger' wird in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und auch in den Medien gemeinhin für Kinder und Jugendliche verwendet, denen mit den vorhandenen Hilfsangeboten von Ämtern, Jugendhilfen, Psychiatrien und Schulen scheinbar nicht mehr geholfen werden kann. In einer dreiteiligen Artikelreihe setzen wir uns kritisch mit diesem Begriff auseinander.
#02 Systemsprenger: Gibt es den Systemsprenger?
In der öffentlichen Diskussion ist in den letzten Jahren immer mal wieder der Begriff aufgetaucht. Krimis in der Primetime des deutschen Fernsehens thematisieren den Systemsprenger. Ein Spielfilm mit Helena Zengel (Systemsprenger, Buch & Regie Nora Fingscheidt) widmet sich dem Thema und macht sich insofern verdient, als er das Thema in die Öffentlichkeit rückt. Der Begriff hat den Vorteil, dass er scheinbar so aussagekräftig ist. Systemsprenger! Pow! Man hört förmlich den Knall. Und der Begriff bündelt zahllose Erscheinungsformen eines Phänomens. So entsteht die Gefahr der Vereinfachung und der Bildung von Stereotypen. Wie so oft – Stereotype vereinfachen das Leben ungemein, aber sie vereinfachen eben auch! Und sie werden so regelhaft der Komplexität des zu beschreibenden Sachverhaltes nicht gerecht. Die echten Lebensgeschichten sind komplexer.
Fallbeispiele
Ziemlich banal: Der Bub, der schon immer in der Schule weggeschoben wurde oder zumindest als schmaler und zart gebauter Junge belächelt wurde, auch wegen seines leichten Stotterns. Und dann auf einmal mit der Pubertät aus sämtlichen Klamotten rausgewachsen ist. Und groß und kräftig nur die Faust zeigen muss und sich vor Nichts und Niemanden verstecken muss.
Oder der knapp 12-Jährige, dessen Biografie sich nicht mehr rekonstruieren lässt. Der mit dem 4. Lebensjahr aus der leiblichen Familie mit viel Tatütata herausgenommen wurde und seitdem zwei Adoptivfamilien und vier Heimeinrichtungen „verschlissen“ hat. Der junge Mann hat mit niemandem einen Vertrag. Und er muss und will Niemandem mehr gefallen.
Oder die 12-jährige junge Dame, die bei ihren Großeltern aufwuchs und überhaupt nicht verstand, als der geliebte Großvater bei blühenden sekundären Geschlechtsmerkmalen auf einmal nicht mehr die Finger bei sich ließ und ihr sexuelle Gewalt antat. Fortan verwechselt sie geliebt werden mit „ihren Körper verkaufen“ und um alles überhaupt ertragen zu können, kauft sie sich von dem Erlös der Prostitution Drogen für sich und die Freundinnen.
Oder der 15-Jährige mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Leider wurde diese nicht erkannt und so wehrte er sich heftig gegen alle Gruppen und dem bei-diesen-sein-müssen. So brachte er in jeder Schulklasse, im Sportverein oder der Musikgruppe alle gegen sich auf. Der Psychiater beschrieb es als Störung des Sozialverhaltens und der Sozialarbeiter als narzisstische Renitenz. Ruhe fand er erstmals, als er ganz für sich und mit seiner recht hohen Intelligenz im Einklang zur Ruhe kommen konnte und für sich war. Er schläft unter Brücken.
Systemsprenger?